Wo ist die Demokratie?
Der Mensch findet sie im kleinen Kanton Glarus, wo ich im Mai 2024 dem hoch kultivierten Miteinander von Menschen teilhaben durfte.
Mit glasigen Augen, weil innerlich zutiefst berührt, verfolgte ich das empathische, respektvolle und wohlwollende Miteinander der Menschen.
Wenn man von Köln den Rhein hinunter saust, kommt selbst die Deutsche Bahn meistens pünktlich in Basel an. Dort wartet dann ein weiterer Zug mit dem mensch zum Beispiel bis nach Glarus fahren kann. Sieben Stunden dauert die Fahrt, bei der der Mensch mindestens ein Buch lesen oder beim Blick auf die vorbeieilende Szenerie über das Leben nachdenken kann.
Diesmal war das Thema und das Ziel die Demokratie.
Der Glarus ist ein Kanton, gleich hinten am Zürichsee westlich. Etwa 40.000 Menschen wohnen in der Landsgemeinde Glarus, die alle miteinander über alles reden und abstimmen (können).
Die Rituale der Gegenseitigkeit überzeugen und ergreifen. Mit großem Brimborium und begleitendem Fest und Markt freut sich sichtbar die gesamte Landsgemeinde auf dieses Ereignis.
Doch wird wirklich über alles entscheiden? Es ist auch hier so, dass nicht alle Themen behandelt werden können, denn in der Schweiz und speziell im kleinindustriell geprägten Kanton können die wirtschaftliche Akteure recht frei über alles entscheiden, was ihnen gehört. Und das ist nicht wenig, da die Vermögensungleichheit auch hier ein extremes Ausmaß angenommen hat. Die klaffende Lücke in der Demokratie besteht in der Wirtschaft. Wesentliche Entscheidungen werden ganz undemokratisch gefasst. In der kapitalistischen Ökonomie können die Eigentümer weitgehend frei entscheiden, was sie mit ihrem Kapital machen. Der Staat bietet auch hier ideale Bedingungen zur Mehrwertmehrung, also zur Ausbeutung von Natur und Mensch. Menschen, die in der Regel arbeiten müssen, auch wenn sie nicht wollen, die selten frei entschieden können, womit sie sich tagein tagaus beschäftigen wollen, wirken unablässig für die Kapitaleigener und deren Akkumulation. Sie können wenig bis gar keinen Einfluss auf das Wie und das Was der Produktion nehmen. Insofern kann mit Elizabeth Anderson von einer Diktatur mitten in der Demokratie gesprochen werden. Oskar Negt hat uns erinnert, dass die Demokratie nicht geschützt werden kann, wenn auf Dauer wesentliche Teile nicht demokratisch organisiert sind. „Eine konsequente Demokratisierung aller Lebensbereiche ist die einzige Möglichkeit, ein demokratisches System lebendig zu halten. Wo Menschen sich als bloße Anhängsel von Marktgesetzen erfahren und der praktisch diktatorischen Gewalt einer Managerclique unterworfen sind, gehen die demokratischen Teilhabeimpulse verloren. Demokratie wagen, das hieße heute Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die Verfügungsmacht über die Produkte ihrer eigenen Arbeit – hieße: Wirtschaftsdemokratie wagen.“ (O. Negt)
Demokratie ist also nicht durch Demokratie gefährdet, sondern durch zu wenig Demokratie. Sie ist nicht durch die Wahlen zu beschädigen (soweit sie fair und zugänglich gestaltet werden), wie jetzt einige behaupten, sondern durch zu geringe Mitwirkungsmöglichkeiten.
Schon in der antiken Demokratie waren etliche Personen formal und faktisch ausgeschlossen. Auch heutzutage können aus Zeitmangel, verstellten Zugängen, zu geringem Selbstvertrauen, eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten oder eben Ausschlüssen nicht an der Demokratie mitwirken oder glauben es nicht zu können. Erhebliche Entscheidungsbereiche sind aus den demokratischen Prozessen ausgeschlossen. Die Freiheiten Einzelner sind schlicht zu groß.
Investoren dürfen alles und werden obendrein subventioniert und privilegiert. Konsumenten dürfen fast alles kaufen, verbrennen, versauen. Die größte Gefahr liegt dabei immer auf Seiten des Kapitals, der Investoren, die über die Produktion maßgeblich entscheiden und zudem die Konsumenten gewaltig manipulieren und das Begehren anheizen. So werden vielfach vollkommen verrückte und verwüstende Konsumpraktiken forciert, die jegliche Nachhaltigkeit untergraben und erheblichen Druck auf die arbeitenden Menschen weltweit ausüben. So muss zur Aufrechterhaltung auch der Klassenkompromisse in den Wohlstandsländern, die ganze Welt zur Verfügung stehen. Dieses Muster gilt nicht nur für die bisherigen kapitalistischen Demókratien, sondern auch für China und Russland. Auch in den Schwellenländern fordern die oberen Mittelschichten die gleichen Konsummöglichkeiten ein.
Nur das Geld zählt? Die Zerstörung der Welt steigt exponentiell mit dem Vermögen und den Verfügungsrechten. Dennoch werden die Vermögenden nicht ihrer Verantwortung gerecht und profitieren ohne Gegenleistung von der Gemeinschaft und mit steigendem Vermögen immer mehr.
Wer den Reichtum begrenzt, beseitigt die Armut und den Hunger, reduziert die ökologischen und sozialen Krisen.
Die Ätiologie der Demokratieerkrankung
Wo liegen die Ursachen (Ätiologie) und Entwicklungswege einer Demokratieerkrankung (Pathogenese)?
Wie kommt es, dass Menschen in autoritären Regimen sich mit ihrem Leben für Freiheit und Demokratie einsetzen und zugleich viele Menschen, mitten in der Demokratie eifrig am Abbau des Rechtsstaates, der feien Presse und der Deliberation mitwirken? Warum wählen in einigen Ländern die Menschen offensichtliche Chaoten, Gewaltverherrlicher und auch Faschisten, deren Vorhaben deren Anhängern und Wählern objektiv Schaden zufügen?
Wir wissen seit langem und mit Karl Polanyi, dass die freie Demokratie besonders durch eine anomische, also ungeregelte Marktgesellschaft gefährdet ist. Die Menschen fühlen sich den Anforderungen nicht gewachsen, sich unentwegt vermarkten, durchboxen und beweisen zu müssen. Daraus generalisiert sich die Angst. Die mangelnden Teilhabemöglichkeiten und die empfundene und die Nicht-Anerkennung mischen sich zu Ressentiments, zu Bitterkeit und Groll, einer großen Hilflosigkeit und Wirkungsleere. In der Not wenden sich die Menschen dann den vermeintlichen Heilsbringern zu, die sie manchmal mit trügerischer Gemeinschaft und Inklusion, zuweilen mit Nationalstolz und Patriotismus versorgen, die ihnen Beistand im Kampf gegen vermeintliche Störenfriede und die Migranten versprechen. Dann wird nicht mehr nach oben kritisiert, sondern nach unten gestoßen: Letztlich push backs the migrants. Es wird grausam und gruselig und der Himmel bräunt sich ein.
Die kapitalistische Marktgesellschaft evoziert ein Nichtdenken, eine Wut aus Angst, ein Streben nach Führung und Geleitschutz, ohne dass irgendein Heil erwartet werden könnte. Das Gegeneinander zerstört alles Miteinander. Demokratie wird desavouiert und pervertiert.
Dazu kommt das Problem, das rechtsautoritäre und protofaschistische Gruppierungen einmal zusammenarbeiten und wenn sie die Macht erlangt haben, die Demokratie demolieren und sukzessive in ein autoritäres System ohne Rechtsstaat, ohne Pressefreiheit, ohne Wahlrechte und gegen alles „Andere“ also gegen alle Formen pluraler Lebensweise agieren.
„Der Kapitalismus ist nicht nur als eine bestimmte Wirtschaftsform zu verstehen, sondern als eine ganze Gesellschaftsordnung, die eine profitorientierte Wirtschaft dazu befähigt, die außerökonomischen Stützen, die sie zum Funktionieren braucht, auszuplündern“. (Nancy Fraser)
Der Kapitalismus zerstört, was er benötigt. Natur, Carearbeit, die Rechtsordnung, die Demokratie und letztlich die Freiheit. Es wundert dann kaum, dass nur noch 13% der Menschen in liberalen Demokratien leben. Tendenz bis auf weiteres fallend.
Noch wird in fast jedem Bereich von Bedeutung undemokratisch entschieden. Landwirtschaft, Mobilität, Wohnen, Gesundheit, Energie werden unter starkem Einfluss oder gleich in Vorstandsetagen über die Köpfe hinweg und nach (oft kurzfristigen) Kapitalinteressen bestimmt. Die Besitzverhältnisse, Verfügungsrechte und der Lobbyismus wirken hier intensiv gegen die Demokratie.
Die reaktionären Ideologen faseln von Demokratie und Freiheit und meinen doch das Gegenteil, eine formierte, autoritäre Gesellschaft der Einheitlichkeit. Nicht zufällig benennen sich rechte Stiftungen Oswald Spengler, der die faustische Kultur wie die Überlegenheit der abendländischen Kultur erfand und dafür aber keine wirklichen Argumente, sondern nur Verschwörungstheorien beibringen konnte. Es wird der erbärmliche Carl Schmitt mit seinem Freund-Feind Denken reaktiviert und eine identitäre Einheitskultur erfunden, in der Weltoffenheit, Toleranz und Vielfalt als Bedrohung aufgebaut werden. Es werden nicht nur wissenschaftliche Fakten geleugnet, sondern auch die Gräuel des Faschismus und des Kolonialismus. Neue Lügengeschichten und Anmaßungen kommen hinzu, die sich als Spekulationen des Nicht- Wissens entpuppen. Reaktionäre Verführer bedienen niedere Gefühle mit verbrämten Ideologien der Herrschaft und Gewalt.
Direkte Demokratie als Gegengift
Vielleicht müssen wir zurück zum frühen Habermas, zur Idee der kollektiven Vernunft. In den Siebzigerjahren analysierte er die „Legitimationsprobleme“ des „Spätkapitalismus“. Dieses Problem ist aktueller denn je. Anstatt hilflose und folgenlose Bekenntnisse zur Demokratie abzugeben, nur ein wenig zu demonstrieren, sollten wir uns fragen, woran es liegt, dass unsere liberale Demokratie an Legitimität verliert und wie wir diese wieder herstellen können. Neben der Begrenzung der Wirtschaft durch eine eng eingehegte Marktwirtschaft, kombiniert mit einer unter demokratischem Primat koordinierten Ökonomie, sollten wir die Demokratie in sich demokratisieren und intensivieren. Mitbestimmen über alles, warum nicht?
Es existieren offensichtliche Vorteile der kollektiven Vernunft. Es resultieren aus Verständigungsprozessen mehr Akzeptanz, größeres Engagement, mehr Ideen, Möglichkeiten und Erkenntnisse und somit dauerhafte und bessere Lösungen. Statt einseitige, nur wenigen dienende werden tragfähige Entscheidungen entwickelt.
Neben der Integration weiterer Bereiche der Lebenswelt, insbesondere im großen Bereich der Wirtschaft, in die Demokratie bieten sich auch moderne Verfahren an, die diesen Prozess unterstützen könnten.
Audrey Tang wirkte bis vor Kurzem als Digitalministerin in Taiwan, einem durch und durch demokratischen Land, das so demokratisch geworden ist, dass das chinesische Regime nervös wird und die Säbel rasseln lässt. In Taiwan haben sie digitale Verfahren in den Partizipationsprozess integriert und ermöglichen eine umfassende Teilnahme der Menschen nach dem Motto fast, fair fun. Über fast alles wird hier miteinander geredet, debattiert, jeder Mensch kann auch, ähnlich wie im Glarus, den Verlauf mit Eingaben und Diskussionsbeiträgen verändern. Nur wurde die Zugänglichkeit hier noch erhöht. Schon früh erlernen die Kinder in der Schule die digitale und auch analoge Mitsprache und Mitwirkung. Zugleich wird viel unternommen, auch arrivierte Personen die Verwendung zu ermöglichen.
Gerade die DeepFake Produzenten, also die Reaktionären Wahrheitsfälscher, können durch demokratische Kultur erkannt und in ihrer Wirkung begrenzt werden. Dazu ist es notwendig, Menschen von jung bis alt mit einer kritischen Denkweise, mit guter Recherche und statistischem und stochastischem Denken vertraut zu machen und in diversen Bereichen und Ebenen die Diskurse zu intensivieren sowie die Polis zu aktivieren. Die direkte Demokratie kann helfen, die Zugänglichkeit zu erhöhen, mit denken und mitgehalten zur Normalität werden zu lassen und alle Menschen dadurch auch aktiv anzuerkennen und zu würdigen.
Eine weitere Mobilisierung und Vitalisierung kann die Demokratie durch Regionalisierung und Dezentralisierung erfahren. in Dänemark, der Schweiz und Schweden verfügen die Regionen über direkte Steuereinnahmen und Handlungsrahmen, was eine Mitwirkung erheblich attraktiver macht. Wesentliche Entscheidungen werden in den Regionen wirksam entschieden. Kombinieren ließe sich das mit Gremien wie Bürger:innenräte, die sich zufällig nach Losverfahren zusammensetzen und eine freie Meinungsbildung zulassen. Diese Gremien erzeugen nachweislich ein Klima der Verständigung und Sachlichkeit und ergeben meistens sehr tragfähige Lösungen, die auch in der gesamten Wählerschaft später auf Zustimmung stoßen. Themen wie Aktivitäten gegen die Ökologischen Krise ( Tempolimit, andere Landwirtschaft und Mobilität) oder soziale Fragen (Mindestlöhne, Bürgergeld, Erbschaftssteuer etc.) lassen sich in solchen Versammlungen effektiv und konsensfähig entwickeln. Vorstellbar wäre, Bürger:innenräte als weitere Kammer neben Bundestag und Bundesrat zu etablieren. Auch das Konkordanzprinzip, also die Reduzierung der Regierungsmacht und die Stärkung der Räte und Versammlungen, dezentrale Entscheidungen, die Gewaltenteilung 2.0 sowie Begrenzung der Eigentumsrechte sind weitere wichtige Möglichkeiten der Demokratisierung. An anderer Stelle sind die diversen Lösungsansätze zusammengetragen worden (Bergmann, 2022 S. 230ff).
Menschen müssen Mitgestaltungsfähigkeiten erlangen können, indem schon früh in der Schule und dann weiter in allen Organisationen und Unternehmen demokratisch gehandelt wird. Dazu kommen erweiterte Mitwirkungsmöglichkeiten und grundsätzlich genügend Zeit und Gelegenheit zur Teilhabe. Es erscheint besonders bedeutsam die Beschämung und Nicht-Anerkennung von zu überwinden und jedwedem Menschen die Teilhabe barrierefrei zu ermöglichen.
Möglichkeiten der Demokratisierung: Demokratie und Markt?
Grundsätzlich existieren zwei Möglichkeiten der Machtbegrenzung und nun werden einige Lesende überrascht sein, neben der Demokratie, die ein Primat der Politik und umfassende Teilhabe an Entscheidungen und Gestaltungen ermöglicht, kann die Marktwirtschaft in ihrer ursprünglichen Form die Macht begrenzen und ausgleichen helfen.
Die Demokratie bietet Möglichkeiten der gemeinsamen Entscheidung, der friedlichen Machtablösung, der freiheitlichen Lebensführung, für Minderheitenschutz und für mehr Gerechtigkeit. Demokratie ist vom deregulierten Kapitalismus bedroht.
Marktwirtschaft wirkt als Machtaufteilungsmechanismus und ideale Form der Selbstorganisation.
So war es schon von Adam Smith gedacht, der sich gegen Machtballungen und für die volle Haftung von Marktteilnehmern einsetzte. Doch es kam ganz anders und auch die Marktwirtschaft ist vom deregulierten Kapitalismus bedroht. Ohne Regulation, Regeln, Begrenzungen und Verpflichtungen (keine Selbstverpflichtungen, denn das sind logische Widersprüche), tendieren Märkte zur Vermachtung, zur Konzentration und letztlich zur Aufhebung der Marktmechanismen. Damit Märkte gut funktionieren, müssen sie klein und überschaubar gehalten werden, also polypolitisch strukturiert sein. Auch neoklassische Ökonomen werden eingestehen, dass Märkte nur bei geringen Macht- und Informationsasymmetrien gut funktionieren. Märkte und das damit verbundene Privateigentum müssen begrenzt werden. Ansonsten verselbständigt sich die Kapitalakkumulation und es entstehen Marktbeherrschungen, die die positiven Wirkungen vollends ins Gegenteil führen. Deutlich deregulierte Ökonomien ermöglichen nur eine Pseudo- Freiheit für das anomische Wildern von Vermögenden. Es wird dann zuweilen Anarchokapitalismus genannt, der im Kampf aller gegen alle endet. Die Abwehr gegen alles, was sich Sozialismus oder Gemeinwirtschaft nennt, resultierte wahrscheinlich aus dem Pyrrhussieg des Kapitalismus. Statt aber nach 1990 die freiheitlich- Demokratie obsiegen zu lassen, gab es gerade in den westlichen Industriestaaten eine Tendenz zur Intensivierung des Kapitalismus mit demokratischer Dekoration. Noch so ein Sieg gegen den Kommunismus und wir sind vollständig verloren, könnte König Pyrrhos I. zitiert werden nur ein Wort ausgetauscht wird.
Dagegen wären doch Alternativen möglich. Selbst in der Sowjetunion wurden sehr positive Ergebnisse mit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) erzielt. Als nach der Revolution eine bedrohliche Situation eintrat, wurden unter Lenin private Märkte in der Landwirtschaft, im Handwerk und der Leichtindustrie erlaubt. Die Versorgung der Bevölkerung hat damals sich binnen kurzer Zeit deutlich verbessert. Erst als die so genannten Nepmänner die bourgeoise Attitude übertrieben und ihren Reichtum zur Schau stellten, war es mit der Zustimmung schnell vorbei. Unter Stalin wurde die NEP sofort aufgelöst und das Ende kennt jeder. Es entstand die totale Diktatur ohne Demokratie und Markt. Es wäre also denkbar, die Schwerindustrie und Agglomerate zu vergemeinschaften und darunter breite Spielräume für eine selbstorganisierte Marktwirtschaft zu geben, insbesondere, wenn hier auch vermehrt Gemeinschaftsunternehmen agieren, die erwirtschaftete Gewinne wieder in die Betriebe investieren. Detailliert ausgearbeitet sind diese Überlegungen im Konzept der Wirtschaftsdemokratie nach Ota Sîk (1979). Auch die Überlegungen zu einem unternehmerischen Staat (Marianna Mazzucato) bieten Wege, für eine demokratische Kontrolle über die Wirtschaft und die Begrenzung der Ungleichheit.
Die Humane Wirtschaftsdemokratie ist durch drei wesentliche Bereiche gekennzeichnet:
– Marktsteuerung und digitale Koordination
Die Soziologen Georg Jochum und Simon Schaupp (2019) zeigen neue Möglichkeiten der generellen Koordination, Planung und Allokation von Ressourcen, Bedarfen und zur Preisbildung auf, die durch Märkte, sondern durch demokratische Gremien gesteuert werden. So können die zentralen Krisen der kapitalistischen Wirtschaft besser bewältigt werden. (Krisenhaftigkeit, mangelhafte Befriedigung sozialer Bedürfnisse, Nicht-Beachtung ökologischer Grenzen und Maße, mangelhafte makroökonomische Partizipation). Die Organisation der Makroplanung hat dieser Hauptaufgabe sowie ihren weiteren Aufgaben einer Demokratisierung der makroökonomischen Entscheidungsprozesse sowie einer gesellschaftlichen Steuerung der sozialen Konsumtion gerecht zu werden.
– Mitweltgerechte Organisationsformen
Der euphemistisch verbrämte Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit sollte offenbart werden und kann letztlich nur als Konflikt offen ausgetragen werden, wenn beide Seiten sich in den Entscheidungsgremien (Vorständen) repräsentiert sehen. In einer Weiterentwicklung demokratischer Unternehmen wird das Kapital zudem neutralisiert, die Gesellschaft gehört allen oder aber, es sind keinerlei Anteile einer Person zugeordnet. Zusammen mit der Öffentlichkeit und der Repräsentanz der Natur, wären also alle Bereiche der Mitwelt vertreten. Auf der mikroökonomischen, also betrieblichen Ebene sieht das Konzept einer Humanen Wirtschaftsdemokratie ökonomisch effektive, kundenorientierte Unternehmen, die intern aber über einen Befähigungskontext verfügen, der Entfremdung und Ausbeutung strukturell verhindert. Dies geschieht auch durch die materielle und immaterielle Teilhabe und Mitwirkung an den wesentlichen Entscheidungen.
– Wettbewerbskontrolle:
Die dritte Säule im Modell einer Humanen Wirtschaftsdemokratie bildet deswegen das Konzept einer effektiven Marktregulation und Wettbewerbskontrolle, um Machtballungen zu verhindern.
Wie kann mehr Demokratie etabliert werden?
Ausgangspunkt für sukzessive Veränderungen könnten die diversen Methoden der Organisationsentwicklung und Transformation, die Mitgestaltungsprojekte in der Gesellschaft sein. Die Partizipation und Teilhabe erscheinen möglich und werden in vielen Bereichen, gerade auch in Unternehmen genutzt. Bürgerbeteiligungsverfahren sind genauso übliche Praxis, wie partizipative Formate in der Privatwirtschaft. Doch führt das nicht unbedingt zu mehr Demokratie, da die Mitwirkung zwar alle oben genannten Vorteile zeitigt, jedoch häufig die Letztentscheidung bei den Eigentümern liegt oder aber, wie in Kommunen, ökonomische Sachzwänge vorgeschoben werden, um damit die im Vorhinein entwickelten diskursiven Ergebnisse wieder zunichte zu machen. Auch führen viele Mitgestaltungsmethoden zu einer neuen Form der Ausbeutung, da im so genannten New Work, Scrum, Soziokratie, Holakratie, Open space und World café oder Sonstwas- Verfahren zwar hilfreiche Ideen und Möglichkeiten erzeugt werden, die Mitwirkenden zu unternehmerischem Handeln angeregt werden, dann aber der gemeinsam geschaffene Erfolg sehr einseitig eingeheimst wird. Die „Partizipation“ muss zum Mitentscheiden führen und es erscheint deshalb besonders wichtig, über die Funktion des Kapitalbesitzes beziehungsweise des Eigentums nachzudenken. Die Neutralisierung des Kapitals in einer Stiftung, der Streubesitz, die Mitarbeitergesellschaft und Genossenschaft sind solche Formen, die vom Drang zur Kapitalakkumulation entlasten und eine gemeinsames Wirken möglicher machen. In den demokratischen Institutionen sind die Parteienfinanzierungen zu reformieren, der Lobbyismus einzugrenzen und die Zugänglichkeit und Transparenz zu erhöhen.
Paradoxer Weise können die Krisenhaften Herausforderungen auch genutzt werden, um mehr Demokratie zu wagen. Es gibt auch positive soziale Kipppunkte, die nach hilflosen Protesten und der Abwendung von der Vernunft wieder in die Demokratie und die Gemeinsamkeit zurückführen. Die sozialen und ökologischen Probleme sind derart komplex und verwoben, dass sie nur gemeinsam bestanden werden können.
Der Fachkräftemangel heißt nichts weiter als eine Machtumverteilung und es ergibt mehr Möglichkeiten, Forderungen zu stellen oder bei Nichtgefallen den Arbeitsplatz zu wechseln. Neben Forderungen nach guten Arbeitsbedingungen und mehr Gehalt können eben auch die Mitwirkungsmöglichkeiten eingefordert werden.
Zudem sind vorhandene Rechte nutzbar, die es schon heute in Form des. Betriebsrats und der Gewerkschaftsarbeit gibt. Die Mitbestimmung hingegen hat schon lange keine große Bedeutung mehr, da sie nur auf die Montanindustrie beschränkt ist.
Es können aber Klagen erhoben gegen Machenschaften von Konzernen und es können, Aktien zusammen erworben werden, um auf Hauptversammlungen zumindest unangenehme Fragen zu stellen. Die Rechte der Konzerne können von jedem Staat beschränkt werden. Es könnte zum Einbau der Verantwortung kommen: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zum Wohle der Allgemeinheit dienen, heißt es im Art 14(b) des Grundgesetzes.
Es kann auch unter den bestehenden Bedingungen für Alternativen gesorgt werden: Die Selbstversorgungsgemeinschaften, die SoLaWi, Solidarisierung überhaupt, die Neutralisierung des Kapitals in Stiftungen und Mitarbeitergesellschaften sind hierfür Beispiele.
Auch die bisherigen Eigentümer können die Vorteile in einem gemeinsamen Besitz erkennen. Schon seit Jahren sind einige, wenn auch nicht ausreichend viele Unternehmen auf Demokratie und Gemeinschaft gepolt. Kürzlich kam wieder eines dazu: Die Familie von Wolfgang Bender im pfälzischen Bissersheim besitzt schon seit über hundert Jahren ein Weinanbaugebiet. Zusammen mit seinem Team baut auf rund 13 Hektar er Bio-Weine an. Nun hat Wolfgang Bender hat den Familienbetrieb komplett in eine sich selbst gehörende Genossenschaft umgewandelt. Somit wird alles in den Betreib zurück investiert und alle wirken engagiert mit fürs da Ganze.
Die gute alte Genossenschaften wird wieder mehr verwendet (z. B. TAZ), es gibt Selbstverwaltungsbetriebe (VSF), Gesellschaften in Eigenverantwortung (GuG, Part G, GenG) und vieles mehr.Organisationen, wie Sozialverbände entdecken ihre strukturelle angelegte Demokratie und revitalisieren diese. Eine Förderung der Commons und Gemeinwirtschaft wäre dennoch politisch zu fordern, genauso wie mehr Umverteilung, mehr Marktregulation und die Demokratisierung der Produktion.
Persönlich sollten wir alle versuchen, mehr Muße und Eigenzeit zu organisieren, „Nutzlosigkeiten“ wie Kunst, Musik etc. intensivieren und uns politisch vielfältig zu engagieren. Menschen können sich in Initiativen, mit Protesten einen Zugang zur Welt eröffnen, in dem die Wirksamkeit gemeinsam eingeübt werden kann. Demokratie werd dann. Zur einer Lebensform der Gleichheit und Gemeinschaft, wo in der Polis alle Menschen anerkannt mitgestalten und ihren Sinn im kollektiven Wirken finden.
Wir sind, wie mittlerweile auch in der westlichen Philosophie anerkannt wird, relationale Wesen, die in ihrer Leiblichkeit existieren, aber eben nur in Bezug auf andere und mit Hilfe anderer. Wir sind also Mitgeschöpfe, die gemeinsam erkunden, bewerten und entscheiden müssen, weil erst die Inklusion anderer Sichtweisen und Interessen zu einer stimmigen Lösung führt. Eine Autonomie der Existenz gibt es nicht. Doch da haben wir alltagspraktisch noch erheblich hinzuzulernen, denn wir bewerten, vereinzeln, optimieren und beschreiben die Menschen als abgetrennte Einheiten, als Individuen. Die großen Herausforderungen sind erst recht nicht von einzelnen Menschen zu bewältigen, die auch auch gar nicht in die Lage versetzt werden sollten, autonom, also autoritär entscheiden zu können. Nur die kollektive Vernunft führt zu vernünftigen Resultaten, dauerhaft, abgestimmt, akzeptiert, erkenntnisreicher. Nur die auf das Gemeinsame bezogene Lebensform ermöglicht das gute Leben mit Freundschaft, Liebe, Spiel und Erkenntnis zu verwirklichen. Eine schein- autonome Existenz umstellt mit materiellem Status erzeugt hingegen nur negative Anerkennung wie Neid, bringt andere auf Distanz und evoziert aus der entstehenden Ungleichheit die schlimmsten Formen des menschlichen Wesens. Es führt zu Gewalt, Ausbeutung, Verwüstung der Mitwelt und bringt niedere Gefühle wie Eifersucht, Missgunst, Groll und Bitterkeit hervor.
In einer demokratischen Mitweltökonomie wäre die soziale Freiheit verwirklicht. Man würde Ungleichheit und Ungerechtigkeit abbauen, es gäbe für alle einen Zugang zu Wissen und Ressourcen, diverse Formen der Mitwirkung, große Vielfalt und Toleranz und es würde in ökologischer und sozialer Hinsicht Maße eingehalten. Wir müssen das gesellschaftliche Umfeld gemeinsam so gestalten, dass Menschen motiviert werden, ihre positiven Eigenschaften zu entfalten. Es sollte einfach gemacht werden, ein guter Mensch zu sein. Hilfreiche Denkweisen in der Ungewissheit, um den geistigen Stillstand zu vermeiden und eine bewegende Entwicklung in Gang zu halten sind beispielsweise: möglichst reversibel entscheiden, Resilienz (Puffer, Vorräte, Slacks) aufbauen, das eigene und systemische Repertoire erweitern und Methoden der Soziokratie und Deliberation anwenden, also effektiv möglichst viele Sichtweisen, Interessen, Kompetenzen in die Entscheidungen einbinden. Es erscheint so überaus wichtig, die Diskurse wieder zu beginnen und aus dem geistigen Stillstand zu entkommen. Wichtig erscheint mir, die vorhandenen Strukturen und Rechtssysteme zu nutzen und zu transformieren. Die krisenhaften und schwierigen Zeiten sprechen für mehr Demokratie, mehr Teilhabe und Verantwortung in allen Bereichen der Gesellschaft. So wird die Demokratie überall in der Gesellschaft spürbar sein.
Literatur:
Elizabeth Anderson: Private Regierung- Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden, Berlin 2019
Gustav Bergmann: Radikale Zuversicht- Möglichkeiten einer Mitweltgesellschaft, München 2022
Georg Jochum und Simon Schaupp: Die Steuerungswende. Zur Möglichkeit einer nachhaltigen und demokratischen Wirtschaftsplanung im digitalen Zeitalter., in: Florian Butollo & Sabine Nuss (Hrsg.): Marx und die Roboter. Vernetzte Produktion, Künstliche Intelligenz und lebendige Arbeit. S. 327-344) Berlin 2019
Marianna Mazzucato: Das Kapital des Staates, Frankfurt 2011
Oskar Negt: Vorwort in: Hartmut Meine/Michael Schumann/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.) Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen! Hamburg 2011
Karl Polanyi: The Great Transformation, (1944) Frankfurt 1973
Ota Sîk: Humane Wirtschaftsdemokratie. Ein dritter Weg, Hamburg 1979
Zur Soziokratie: soziokratiezentrum.org/wp-content/uploads/2023/10/DE-SOCIS-guidelines-V2_DE.pdf
Juni 2024