Anerkennung und Demokratie – ein Beitrag von Rainer Rotermundt

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Wenn hier von Anerkennung in der Demokratie die Rede ist, dann geht es weder um die Anerkennung irgendeines Verdienstes, noch um Anerkennung im Sinne von Reputation (1), noch um die von Hegel im Rahmen des Selbstbewusstseins-Kapitels der Phänomenologie diskutierte, sondern schlicht um die – politische! – Anerkennung des je Anderen als einen Gleichen, als einen anderen Bürger mit denselben Rechten und denselben (bürgerlichen) Pflichten, wie man sie auch
selbst hat. Und es geht nicht um politische Partizipation in den Parteien oder politischen Institutionen.
Dabei lassen sich zwei Richtungen unterscheiden, eine horizontale und eine vertikale. In der horizontalen Anerkennung handelt es sich um die Beziehung der Bürger untereinander, in der vertikalen um die der Bürger zur Regierung, wobei die Betonung immer auf „Bürger“ liegt. Die persönliche Beziehung liegt auf einer ganz anderen Ebene (3). In beiden Richtungen bedarf es der wechselseitigen Anerkennung. Wenn sich die Bürger untereinander nicht mehr als mit gleichen politischen Rechten und Pflichten Ausgestattete wahrnehmen, ist der politische Ausgleich in der Demokratie gestört. Dasselbe gilt, wenn die Regierung die Bürger nicht mehr ernst nimmt oder
diese die Regierung – aus welchen Gründen auch immer – ver- oder miss-achten.
Man könnte von einer politischen Diskursethik (4) sprechen. Denn die bloße Tatsache des Miteinander-Sprechens impliziert ein gewisses Maß an wechselseitiger Anerkennung, dessen die politische Auseinandersetzung bedarf, Aber: „Die Vernunft und ihre Lebensform – die Diskussion – verstehen sich eben nicht von selbst, sind durch ihr So-Sein nicht einfach selbsterklärend, sondern gehören in einen geschichtlichen Zusammenhang, in dem sie erst plausibel werden.“ (5). Der besteht ganz allgemein darin, gesellschaftlich wie politisch anerkannt zu sein, in der eigenen Gesellschaft „zu Hause“ zu sein. An diesem Gefühl kann es auf zwei Seiten mangeln: Die einen werden nicht akzeptiert, sondern bleiben „Fremde“, die anderen fühlen sich eben deswegen „im eigenen Land“ nicht „zu Hause“, sondern über-fremdet. „Die einzigen Menschen, die das Bedürfnis nach Anerkennung befriedigen, die einem das Gefühl geben können, jemand zu sein, sind die Angehörigen jener Gesellschaft, in der man zu Hause ist.“ (6)
Deswegen ist es auch eine Illusion zu glauben, das berühmte „bessere“ Argument setze sich quasi von selbst durch. Denn: „Der grundlegende Irrtum der liberalen Weltanschauung besteht in der Annahme, dass eine Sichtweise aufgegeben werden müsse, wenn ihre Prämissen widerlegt worden seien. In Wahrheit geben Menschen Weltanschauungen aber erst auf, wenn das Bedürfnis befriedigt wird, das ihnen zugrunde liegt.“ (7)

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Was aber geschieht, wenn dem vorgeblich oder wirklich „schlechteren“ Argument die politische Zulässigkeit entzogen wird? An die Stelle der Anerkennung des anderen Bürgers tritt der Versuch, ihn aus dem demokratischen Prozess auszuschließen. Gleichzeitig erheben beide Seiten den Anspruch jeweils für sich, „die Demokratie“ zu repräsentieren. Vergleichbares spielt sich im Verhältnis von Bürgern und Regierung ab, wenn eine Seite der anderen die Anerkennung entzieht. Tut es die Regierung, so degenerieren die Bürger zur bloßen Manipulationsmassse, tun es die Bürger, so erscheint die Regierung als fremdgesteuert und / oder korrupt.
Beides spielt sich gegenwärtig in Deutschland und in vielen anderen Ländern Europas ab. Sowohl die Beziehung der Bürger untereinander als auch die zwischen diesen und der jeweiligen Regierung scheint grundlegend gestört. (8) „Brandmauer“ und „Fuck AfD“ unterscheiden sich dabei allenfalls in der Rigidität ihrer Verwirklichung. Und ob in Frankreich oder in Deutschland: Dem Wahlverhalten der Bürger ist zu entnehmen, dass sie den bisherigen Regierungen prinzipiell misstrauen. In Frankreich stehen zwei Fundamentalopponenten (NFN und RN) gegen die Restbestände  „klassischer“ demokratischer Parteien, in Deutschland wächst die Fundamentalopposition (AfD) mit dem und durch das Verhalten der „etablierten“ Parteien.
Im Unterschied zu diesen suggerieren RN, AfD und andere dieser Machart, die eigenen Verhältnisse in die eigenen Hände zu nehmen (siehe Brexit). Wir wollen über uns selbst entscheiden und uns nichts von „außen“ vorschreiben lassen. Für das „Außen“ stehen dann wahlweise oder vermischt die EU (vulgo „Brüssel“), die diversen Denk- und Handlungsvorschriften in Sachen Nachhaltigkeit und Achtsamkeit (9) (vulgo „links-grün-versifftes Geschwätz“), Immigranten (vulgo „Ausländer“), alles, was der  Suggestion autochthoner Autonomie fremd ist und woran letztendlich „die Ausländer“ schuld seien, weil man sich in allem nach ihnen richten müsste, statt einfach zu tun, was man ohne diese Rücksichten tun wollte und angeblich könnte.. D.h. „die Ausländer“ als manifestierte Fremdheit stehen m.E, für eine profunde Fremdheitserfahrung im gesellschaftlichen wie im politischen Leben, nämlich nicht mehr anerkannt zu sein als politisch Bestimmende und durch „Fremde“ gesellschaftlich marginalisiert worden zu sein, für den Eindruck, man sei nicht mehr Herr der eigenen Verhältnisse – ein Eindruck, der schon immer der Realität entsprach, nie aber dafür galt. Denn die bis dato herrschende Illusion bestand darin, der eigenen Verhältnisse Herr zu sein, was im Kapitalismus noch nie gegolten hat und nie gilt, was aber in den „trente glorieuses“ hinter dem wirtschaftlichen Aufstieg verborgen bleiben konnte.
Aktuell mangelt es also sowohl an der horizontalen als auch an der vertikalen Anerkennung. Die vertikale schwindet durch das von den tonangebenden Politikern verfochtene TINA-Prinzip. Wer dem nicht folgt, gilt entweder für reaktionär oder eben nicht auf der Höhe „der Zeit“. In keinem Fall muss man sich der Sorgen der Leute annehmen und man bekommt dieses Verhalten durch wachsende AfD-Gefolgschaft quittiert. Die horizontale fällt dem das Denken beherrschenden Entweder-Oder-Prinzip zum Opfer, das keine Vermittlung kennt und demzufolge den je Anderen als „Nazi“ bzw. als „links-grün-versifftes Gesindel“ wahrnimmt. Auch hier entfällt von vorneherein die Anerkennung des Anderen als politisch ernstzunehmenden Bürger.

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Nun aber, in der Krise, bedarf es der „Schuldigen“ für die spürbare Veränderung, zumal es ja für für alles und immer „Schuldige“ geben muss (das hat uns das Kausalitätspostulat der Aufklärung gelehrt). Und es müssen stets Menschen sein – aktuell also entweder die „üblichen Verdächtigen“ Juden und „die“ Ausländer oder „die Nazis“ – , denn derselben Aufklärung zufolge „machen“ wir ja unsere Geschichte selbst. Und wie und wo sollte man gesellschaftliche „Strukturen“ oder gar die kapitalistische „Logik“ zu greifen bekommen? Bis diese einmal aufgehoben sein wird, liegt offenbar ein sehr langer Weg vor uns …

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1 Vgl. Axel Honneth, Anerkennung, Berlin/ (Suhrkamp) 2018, S.24 ff
2 Denn: „In den Passagen über das Verhältnis des ´Herrn´zum ´Knecht´ geht es zumindest zunächst nicht um soziale
Beziehungen zwischen (zwei) Personen. Es geht nicht um ein Ich und ein Du. Genaueres Lesen zeigt, dass das
allgemeine Thema immer noch die logische Struktur bewusster Selbstbeziehungen ist. (…) Hegel spricht hier also
keineswegs einfach über soziale Verhältnisse …, wie die zwar einfallsreichen, aber ganz großzügigen Lektüren
Hegels von Marx über Lukács und Kojève bis zu Axel Honneths Kampf um Anerkennung im Grunde behaupten, und
wie sie leider üblich geworden sind.“ (Pirmin Stekeler, Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dioalogischer
Kommentar, Bd.1, Hamburg (Meiner) 2014, S.711 f)
3 Stichwort: Wir müssen uns ja nicht lieben. Es genügt, wenn wir uns respektieren.
4 Vgl. Karl-Otrto Apel, Diskurs und Verantwortung
5 Jörg Baberowski, Der sterbliche Gott, München (Beck) 2024, S.932
6 Baberowski, a.a.O., . S.934
„Dieser Wunsch nach gegenseitiger Anerkennung führt dazu, dass bisweilen die autoritärsten Demokratien von ihren
Angehörigen den aufgeklärtesten Oligarchien vorgezogen werden.“ (Baberowski, a.a.O., S.935)
7 Baberowski, a.a.O.,, S.9338 Als erstes Symptom dieser Störung ließe sich nachträglich wahrscheinlich der Aufschwung diverserBürgerinitiativen während der letzten Jahre lesen. Wer sich von „der Politik“ nicht (mehr) repräsentiert fühlt, muss „seine“ Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.

9 Quasi-Zitat Ex-DDR: „40 Jahre lang haben sie uns vorgeschrieben, was wir zu tun und zu denken haben, und jetzt
geht es schon wieder los.“