„Schiffbruch.“ Zeitdiagnostische Texte aus Philosophie, Soziologie, Ökologie und Literatur
Wir diskutieren in unserem Blog aktuelle philosophische, sozialwissenschaftliche und literarische Texte. Zeitdiagnosen sind Versuche einer Selbstvergewisserung in unsicheren Zeiten, in der uns eine wachsende gesellschaftliche Komplexität mit immer neuen Herausforderungen und Krisen konfrontiert. Die Gemeinsamkeit der in dem Blog versammelten Texte soll darin bestehen, dass sie alle auf die Tatsache reagieren, dass die moderne Lebenswelt der Gegenwart auf verwirrende Weise immer mehr ihre Züge von Vertrautheit verliert. Die Unbestimmtheit und Komplexität erfordern eine Öffnung zu Anderem und Anderen. Die vielfältigen Krisen gesellschaftlicher, sozialer und ökologischer Art verstärken sich gegenseitig und erfordern eine mannigfache Herausdenkweise, ein Denken „ohne Geländer“. Wie unterschiedlich auch immer sie auf diese Situation reflektieren, sie folgen in ihren Analysen dem Modell von „Krise und Kritik“.
Der Schiffbruch steht am Anfang der europäischen Literatur
Odysseus, der immer wieder Schiffbruch erleidet, alle seine Gefährten verliert und letztlich doch jeden Schiffbruch überlebend und „vielgewandt“ sein Zuhause erreicht.
Er schützt sich vor den Versuchungen und segelt zwischen Skylla und Charybdis hindurch.
Daheim erwarten ihn neue Herausforderungen und er verstrickt sich wiederum in tiefe Verfehlungen und Gewalttaten. Der „listenreiche“ Odysseus ist für uns – lange vor seinem neuzeitlichen und merkantilen Nachfolger Robinson Crusoe – ein europäischer Archetypus und Überlebenskünstler. Seine Fähigkeit, immer wieder in Schwierigkeiten zu geraten und immer wieder aus diesen als „Vielgewandter“ herauszufinden, macht ihn zum ersten postheroischen Helden. Ein Held, der auch im Schiffbruch Ängste erleidet, weint, wenn man ihm seine eigene Geschichte vorsingt; aber allem Anschein nach nicht aufhört, über Auswege nachzudenken.
Beide, Odysseus wie Robinson, kamen aber nicht allein aus ihren Zwangslagen heraus, sondern waren – wie wir alle – auf andere angewiesen und sie sind fiktionale Charaktere, die nur auf langen Irrwegen zum Ziel fanden.
In „Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (1979)“ verfolgt Hans Blumenberg die Geschichte der Metapher von der Antike bis zur Gegenwart. Im Bild des „Schiffbruchs“ gilt seit der Moderne das Meer und die Schiffsreise als Metapher für Aufbruch und Scheitern. Wir, die Zuschauer:innen, stehen dabei nicht etwa am Ufer, sondern wir erleben die Reise als Mitfahrende, die gezwungen sind, während der laufenden Fahrt das Schiff umzubauen, damit es seetüchtig bleibt. In Angesicht der weltweiten Bedrohung der Lebenssphären sind wohl gerade von Europäern ganz andere Denk- und Handlungsweisen notwendig. Wir werden wir auch aus den Trümmern wenigstens notdürftig ein Floß zusammenbauen. Auch zusätzlich benötigtes Material wird sich finden lassen: «Offenbar enthält das Meer noch anderes Material als das schon verbaute. Woher kann es kommen, um den neu anfangenden Mut zu machen? Vielleicht aus früheren Schiffbrüchen?» (Hans Blumenberg).
Während einige auf dem Trockenen sitzen versinken andere in der Flut. Die Abschottung, die Autarkie werden uns so wenig helfen. Wir müssen gemeinsam die Lösungen erarbeiten und Möglichkeiten eröffnen.
Nur in einem öffentlichen Raum kann sinnvoll über Baupläne gesprochen werden. In ihm „offenbaren“ sich sprechende und handelnde Menschen, „wer sie jeweils sind“. Sie zeigen dabei „aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, indem sie gleichsam auf die Bühne der Welt treten, auf der sie vorher nicht sichtbar waren.“ (Hannah Arendt, Vita activa).
Herzliche Einladung zum Mitgestalten
Wir möchten unsere Leser:innen deshalb einladen, in unserem Blog mit uns über Texte und Autor:innen zu diskutieren, die neben der glanzvollen Seite der transnationalen Verflechtungen auch die dunkle Rückseite der europäischen Fortschritts- und Modernisierungskultur thematisieren. Wer Vorschläge für eigene Texte hat oder sich zu kritischen Stellungnahmen, Kommentaren und Essays herausgefordert fühlt, ist herzlich eingeladen, sich an der Gestaltung des Blogs zu beteiligen.
Als Zeitgenossen, die rettungslos dem analogen Zeitalter verhaftet bleiben, haben wir doch die Hoffnung, dass auch ein theorieorientierter Blog als Möglichkeit für Diskurse genutzt wird, die für das bessere Argument offen bleiben – auch wenn sie aus einem fremden Milieu oder einem gegnerischen politischen ‚Lager‘ stammen.
Gustav Bergmann & Thomas Münch