Eine frühe Erinnerung; der Tisch funkelt und glänzt und in der Mitte steht der silberne vierarmige Kerzenleuchter. Die Kerzen werden angezündet, sobald die Gäste erscheinen und dann ist es Zeit für mich ins Bett zu gehen. Auch wenn ich lieber unter dem Tisch sitzen würde und den Gesprächen der Erwachsenen zuhören möchte. So bleibt mir nur, ihrem leisen Murmeln zu lauschen, bevor ich einschlafe.
Sommer 1968; zu zweit machen ein Schulfreund und ich eine Radtour in den Norden und auf dem Rückweg stehen wir im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Zwischen gepflegten Massengräbern eröffnet sich mir das Unverständliche der Shoah und mich überkommt eine erste Ahnung, dass meine Eltern und ihre Gäste in einem Zusammenhang mit dem Massenmords stehen, stehen müssen. „Wir haben davon nichts gewusst“ ist die immer wiederkehrende Antwort der Eltern und umso deutlicher dem 16 jährigen die Lüge wird, umso mehr stellt sich ihm die Frage nach der Täterschaft der Eltern. Er wird in dieser Zeit zum „Täterkind“; ein Kind von Eltern und Kind einer Generation, die an Vertreibung und Ermordung ihrer jüdischen Nachbarn ihren Anteil, ihre Täterschaft hatten.
Und ihren Anteil an Raub und Diebstahl, an der „Arisierung“, wie die Täter und Nutznießer diesen legalisierten Raub und Diebstahl versuchten zu verschleiern. In dieser Zeit der Befragung und des schrittweisen Erkennens elterlicher Verantwortung und Tuns, tritt die mütterliche Erzählung von der jüdischen Nachbarschaft, deren Wohnung von eben dieser Nachbarschaft am offenen Tag geplündert wurde.
„Wir mussten ihn erst einmal reparieren, denn er war verbogen und verkratzt“ so erzählt die Familiengeschichte über den Familienleuchter. Warum war er verbogen und wann und wie kam er in den Besitz der Familie? Offene Fragen, die nur in Andeutungen und Blicken beantwortet wurden. Ein Geheimnis schien an diesem Leuchter zu hängen.
Die Eltern schwiegen auch dazu; keine Andeutung, keine Erklärung – nur Schweigen.
Die Gespräche ihrer Kinder, meiner Geschwister und mir, kreisten nur vorsichtig um den silbernen Leuchter, einen Leuchter, der in unserer Gedankenwelt immer mehr zu einem Anstoß wurde. Jedes Anzünden der Kerzen, jedes Präsentieren des Leuchters hinterließ einen schalen Geschmack in unseren moralischen Systemen. Wem gehörte der Leuchter und wem sollten wir ihn zurückgeben?
Gehört er nicht eigentlich in eine Ausstellung, ähnlich wie sie das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum mit seiner Ausstellung zu geraubten Kulturgütern „I MISS YOU – Über das Vermissen, Zurückgeben und Erinnern“ (https://museenkoeln.de/rautenstrauch-joest-museum/I-MISS-YOU) zeigt, weil es sich auch hier um einen geraubten Gegenstand der jüdisch-deutschen Alltagskultur handelt. Ein Gegenstand, der „restituiert“ werden muss?
Der Leuchter ist in der Enkelgeneration angekommen. Wie werden sie mit der Täterschaft ihrer Großeltern umgehen? Werden sie die Shoa historisieren? Oder die Ermordung und Vertreibung der jüdischen Deutschen und die Shoa als europäisches Katastrophe als ihr historisches Erbe neu bearbeiten und verstehen? Und was werden sie mit dem Leuchter machen?
Thomas Münch, Januar 2023