Camp des Milles – oder das Gestern im Heute

In einem Ziegelbau waren wir untergebracht, und die Zeige waren das Merkmal dieser Zeit…zerbröckelnde Ziegel waren überall gestapelt, sie dienten usn als Sitze und als Tische…Ziegelstaub füllte unsere Lungen, entzündete unsere Augen.“

(Lion Feuchtwanger. Der Teufel in Frankreich)

Wir stehen im Dachgeschoß der Ziegelfabrik und der rote Staub überzieht alles. In diesem großen offenen Raum direkt unter dem Dach haben die internierten Männer geschlafen; auf Stroh – kalt im Winter und unerträglich heiß im Sommer.

Unser Rundgang führt uns vom Keller bis hierauf zum Dach: im Keller konnten wir die Ziegelöfen begehen, in den die Insassen versuchten Ruhe zu finden. Und hier sehen wir die Reste einer Wandbemalung, die zum Kabarett führte, der Kellerbühne wo die Insassen von Les Milles ihre Kultur im Ziegelwerk aufführten und so Sinn in ihren sinnlosen Alltag brachten.

Das Lager Les Milles in der Nähe von Aix en Provence hatte 3 Phasen in seiner Lagergeschichte: Nach der Kriegserklärung 1939 brachet die Französische Regierung die Emigranten, die „feindlichen Ausländer“ wie Deutsche, Tschechen und andere „Feinde des Reiches“ hier unter. Sie konnten aber von hier aus nach Marseille fahren, um dort die notwendigen Visa und Genehmigungen für ihre Ausreise aus Frankreich zu beantragen. Mit mehr oder weniger Erfolg, wie wir aus den Tagebüchern von Feuchtwanger oder Anna Seghers Roman „Transit“ wissen.

 

Mit dem Waffenstillstandsabkommen 1940 zwischen der Petain Regierung und Nazi-Deutschland veränderten sich die Rahmenbedingungen für die Emigranten deutlich: Bestandteil des Abkommens war die Verpflichtung, diese „Feinde des Reiches„ an Deutschland auszuliefern. Und jeder der Insassen in Les Milles in dieser zweiten Phase wusste, was das bedeutet. Das Gelingen der Flucht in die Freiheit entschied jetzt über Tod und Leben.

In der dritten und letzten Phase war Les Milles eines der vielen französischen Sammellager, in denen die Petain-Regierung die Jüdische Bevölkerung im Land konzentrierte, um sie vor dort aus – meistens über Paris – in die Todeslager des Ostens, in die „Bloodlands“ transportieren zu lassen. Les Milles war der Vorhof von Auschwitz geworden! Und Petains Gendarmerie arbeitete in diesem Prozess der „Endlösung“ Hand in Hand mit Nazi-Deutschland.

Heute ist Les Milles eine auf private Initiative entstandene Gedenkstätte mit einem außergewöhnlichen pädagogischen Konzept: In den Rundgang in der Ziegelei sind die einzelnen historischen Etappen und Prozesse der Zeit integriert; eine Vielzahl von Bild- und Tondokumenten versuchen diese dunkle Zeit darzustellen und den Besucherinnen und Besuchern einen Zugang zu ihr zu eröffnen. Mit allen Sinnen – dazu gehört auch der bereits von Feuchtwanger erwähnet Ziegelstaub – soll hier ein Nachvollziehen in seinen Begrenzungen ermöglicht werden.

Was Les Milles aber gerade an dieser Stelle auszeichnet, ist die „letzte Station“ in diesem Rundgang: Hier wird der Völkermord in all seinen Dimensionen greifbar; der Zusammenhang vom Genozid an der Armeniern über die Shoah, die Massenmorde in Jugoslawien bis hin zum Völkermord in Ruanda wird hergestellt.

Üblicherweise enden an dieser Stelle die Gedenkstätten und als Besucher bleibt man mit einer hilflosen Taubheit und Verstummung zurück. Eine Hilflosigkeit die das gesehene und wahrgenommene Elend des Bösen noch verstärkt und den Mund verschließt.

Nicht so in Les Milles:

Dieser „Baum der Erkenntnis“ beschreibt quasi als Essenz der hier dargestellten Geschichte die 3 Etappen, die Schritte, die vom „Rassismus“ zum „Genozid“ führen. Jede Etappe wird deutlich in ihren Bestandteilen und Mechanismen beschrieben – so wie es uns schon Hannah Arendt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ skizzierte –und nachvollziehbar in ihrer perfiden Logik gemacht.

Der Weg von den „Vorurteilen und sozialen Spannungen“ über „eine fortwährende Verschlechterung“ hin zur Etappe, in der die Demokratie sich zur Diktatur entwickelt und schließlich die Schlussetappe mit Verfolgung und Massenmord – „Killing Fields“!

Der alles entscheidende Punkt an diesem „Baum der Erkenntnis“ ist allerdings die Aufforderung zur und die Einsicht in die Möglichkeit des Handelns in jeder Etappe. „Nichts machen, heißt es geschehen lassen“ ist eine zentrale Einsicht in diesem Appell und die zweite besteht darin dass, Jeder und Jede in diesem langsamen und schleichenden Prozess widerstehen („resister“) kann. Und das immer nur im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten.

Man verlässt Les Milles mit dieser Aufforderung zum Handeln, mit der Möglichkeit zu handeln und nicht mit dem schalen Gefühl der Unmöglichkeit und der Niederlage.

Und das macht den Besuch in Les Milles so wichtig für unsere Zeit.

Denn die „Indesirables“ der Petain-Regierung sind die „Unerwünschten“, die Flüchtlinge im Europa unserer Zeit.

 

Thomas Münch Dezember 2024

2 Anmerkung zu “Camp des Milles – oder das Gestern im Heute

  1. Bernd Hahnfeld

    Ich habe die riesige Ziegelfabrik vor Jahren kurz nach der Eröffnung besucht. Mit vielen anderen Erinnerungsorten der Region macht sie die Schicksale der Internierten und -später -der Gefangenen eindrucksvoll lebendig. Aber auch das dunkle Kapitel in der Geschichte Frankreichs, das jahrzehntelang die Gedenkstätte verhindert hat. Der Besuch ist sehr zu empfehlen.
    Sehenswert dazu ist der 1995 entstandene Film „Les Milles – Gefangen im Lager“ von Sébastian Grall.
    Bernd Hahnfeld

  2. Peter Flick

    „Les Indiserables“ – Die Gespenster der Vergangenheit

    Man muss nicht Hannah Arendt kennen, um zu verstehen, warum für sie das „Lager“ zum Paradigma einer philosophischen Theorie der totalitären Moderne geworden ist (als Internierungslager der Geflüchteten, Foltergefängnisse ebenso wie als Konzentrations- und Vernichtungslager).
    Nach dem Fall des Assad-Regimes und der Öffnung der Folterverliese von Sednaya wird auch eine dunkle Seite der deutsch-syrischer Vergangenheit ans Tageslicht kommen. Sie beginnt mit der Zusammenarbeit der Geheimdienste der neu entstandenen Bundesrepublik mit dem syrischen Regime, in dem mit Wissen der deutschen Verantwortlichen ein NS-Funktionär wie Alois Brunner seiner Expertise als Folterer dem syrischen Diktatur zur Verfügung stellen konnte.
    Schändlich ist auch, wie wenig vergangene Bundesregierungen bis in die jüngste Vergangenheit hineinen nicht vor einer Kooperation mit den Folterknechten zurückschrecken, ob es nun Syrien betrifft oder die Regime in Saudi-Arabien und Ägypten u.a., die alle ihre Sednayas unterhalten. Die offizielle Empörung über die Barbarei, von der alle Verantwortlichen wussten, hat etwas Bigottes. Die vielen Deutsch-Syrer werden uns, nachdem alle Geheimdienstarchive geöffnet sind, über die Verwicklungen des demokratischen Deutschlands in die Schweinereien des yrischen Regimes informieren, so hoffe ich mit Leon Holly in der taz vom 11.12.2024.

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