Schlösser für alle? Kanalisation oder der Quell des Wohlstands

 

In Marseille steht ein Schloss, es ist ein Gebäude mit imperialem Aussehen, genauer gesagt, ein Ensemble von Häusern, einer imposanten Treppenanlage und einem Park. Kinder spielen hier, Flaneure lustwandeln und Touristen trotten die Treppen auf und ab, um die in den Räumen befindlichen Museen zu erreichen.

Aber was macht ein Schloss in Marseille, das viele eher mit der revolutionären Hymne, der Marseillaise verbinden? Marseille, eher eine Stadt der Transition, des Rückzugs und der Flucht, des Übergangs nach Afrika, eine Stadt der Gewalt, die erst in den letzten Jahren eine Entwicklung zur Tourismus. In der Mitte des Gebäude erkennt man bald einen mächtigen Wasserfall und so überrascht es schon, dass dieses Gebäude den würdigen Endpunkt einer 150 Jahre alten Infrastruktureinrichtung darstellt. Im Longchamps endet die Wasserleitung für die Stadt, die, obwohl am Meer gelegen, unter großen Wassermangel litt und zunehmenden wieder leidet.

Das Wasser wird der 80 Km entfernten Durance entnommen. Von dort wird das Lebenselexier über viele imposante, noch heute intakte Aquädukte geleitet.

Nun, wer hat denn diese Anlage gebaut und finanziert? Es hat sich auch hier kein privater Investor darum gekümmert, sondern natürlich die Stadt, der Staat, die öffentliche Hand. Es war ein wesentlicher Grundstein des Wohlstands und eine bittere Notwendigkeit, die Städte mit frischem Trinkwasser zu versorgen und natürlich die Fäkalien zu entsorgen. Besonders Ende des 19. Jahrhunderts stanken die Städte allerorten und waren ein Hort für Ansteckung mit Cholera und Thyphus. Dazu hat man in Marseille erst spät eine gute Lösung gefunden.

Es war keinesfalls der Kapitalismus, die Marktwirtschaft oder große visionäre Gönner, die dieses Basiselement der Daseinsvorsorge errichteten. Der Wohlstand wächst auf öffentlicher Grundlage, aus dem Zugang zu wesentlichen Formen der Daseinsvorsorge.

Nicht weit entfernt von diesem faszinierenden Beispiel gemeinsamer Öffentlichkeit, ist in den Ruinen des Kapitalismus eine weitere Soziale Sphäre entstanden. Menschen treffen sich im Kunst und Kulturzentrum La Friche, was so viel wie Ödland oder Brache bedeutet und in Wirklichkeit eine vielfältiges Kunst- und Kulturzentrum in und um die Hallen einer ehemaligen Tabakfabrik darstellt.

La Friche im Stadtteil mit dem passenden Namen la Belle de Mai bildet, was mensch heute als „Dritten Ort“ bezeichnet, eine Sphäre der Begegnung von Kunst, Musik, Skaten und vielem mehr. Es erscheint organisch mit der Umgebung verwachsen und versammelt alle Milieus in einer reizvollen, inspierenden Mélange. Es ist ein Ort der Tätigkeit für etwa 500 Menschen, die hier ihren kreativen Berufen nachgehen, ein Ort des Festivals, der Vernissagen, des Spiels und Sports, mit Kita, Buchhandlung und Schulungszentrum sowie des Kinos Gyptis.

Es ist unschwer zu erraten, wer dieses Zentrum ermöglicht hat. Es war und ist ein öffentlich finanzierter Bereich, der erweiterten Daseinsvorsorge, des urbanen Experimentierens und der Bildung.

Aber zurück zum Wasser.

 

Wohlstand basiert auf Kanalisation…

Schon die Römer bauten von der Urft bis Köln eine Wasserleitung von 60 Km Länge. Die Eifelwasserleitung stellte eine Meisterleitung der Technik dar. Schon vor 2000 Jahren hatten sich also eine große Organisationsfähigkeit und beeindruckende Expertise ausgebildet. Erst im 19. Jahrhundert hat man wieder daran angeknüpft und unterdessen die Anlage als Steinbruch benutzt und damit zerstört.

Auch die Abwasserentsorgung wurde schon von den Römern als öffentliche Kanalisation erbaut, die Cloaca Maxima. Heute noch stiefelt der Mensch über Kanaldeckel mit der Aufschrift SPQR (Senatus Populusque Romanus), also der Senat und die Bevölkerung von Rom hat auch diese Anlage erbaut.  Doch heute versickert etwa 40 Prozent des Trinkwassers aus den ramponierten Wasserleitungen in Italien. Eine Folge der öffentliche Armut und neoliberalen Unordnung.

Im frühen europäischen Mittelalter ging das Wissen um die hygienische Bedeutung einer geordneten Wasserversorgung und Abwasserentsorgung weitgehend verloren. Erst in der Neuzeit wurde in den aufgrund der Industrialisierung stark gewachsenen Städten eine effektive Kanalisation installiert.

Schon im Jahre 1739, also schon vor der Industrialisierung, war  Wien als erste Stadt Europas vollständig kanalisiert. Wien scheint somit häufig Vorreiter gewesen zu sein. Auch der im frühen 20. Jahrhundert begonnene soziale Wohnungsbau hat Vorbild Charakter bis heute. Im Jahr des „Großen Gestanks“ (The Great Stink,1858) wurde von der Regierung in London nach schlimmen Erfahrungen mit mehreren Cholera-Epidemien der Bau eines Kanalisationssystems initiiert. Auch ein öffentlicher Bau sind die heute legendären Katakomben von Paris.

Der Kapitalismus stellt einen Überschuss von Unwichtigem bereit und erzeugt gleichzeitig einen Mangel an Wichtigem. Es wird jeweils die in der Zivilgesellschaft erzeugte Grundlage durch den Kapitalismus zerstört und aufgebraucht. Dieser Widerspruch führt dann zu Kompromissen wie Sozialpolitik und Regulation der freien Märkte. Dennoch ist es ein unbekümmert vorgebrachtes Narrativ, der Kapitalismus und die Marktwirtschaft die Innovationen würden den Wohlstand und die Freiheit schaffen. Es ist wahrscheinlich gerade andersherum. Ohne den großen Beitrag der Reproduktionsarbeit, der Ausbeutung von Menschen und die unwiederbringliche Extraktion von Rohstoffen, die Externalitäten, wäre das rechnerische Wachstum gar nicht möglich. Zudem liegt der wahre Wohlstand in anderen Dingen und „Undingen“ verborgen, als in materieller Anhäufung. So aber arbeiten die meisten für den Gewinn der Wenigen. So beruht der große materielle Wohlstand der Minderheit auf der Ausbeutung der Welt. Der Widerstand der Subalternen und die Erschöpfung der Ökosphäre führen nun zu einem vehementen Widerstand.

Wir brauchen alle Fundamentalökonomie und soziale Sphären

Die Fundamentalökonomie bietet einen pragmatischen Ansatz, die Entfaltung des Lebens, die Verwirklichungschancen und die Befähigung von Menschen konkret zu stärken. Sie stellt die Infrastruktur für ein sicheres, gesundes und kultiviertes Leben zur Verfügung. Unter dieser Ökonomie des Alltags werden alle die Bereiche verstanden, die basal sind für die Wohlfahrt der Bürgerinnen und Bürger eines Landes. Es sind eine gute Wasser- und Energieversorgung,

die Kanalisation sowie die ökologische Entsorgung, zudem der freie Zugang zu Bildung und Wissen, Kinderbetreuung und medizinischer Versorgung, Pflege, bezahlbaren Wohnungen sowie einer Mobilitätsinfrastruktur. Alle diese Bereiche werden von Menschen notwendigerweise fast alltäglich in Anspruch genommen. Wenn diese Grundlagen fehlen oder nur unzureichend verfügbar sind, schränkt es die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten erheblich ein und der Wohlstand insgesamt wird gefährdet. Hier kann man die Widersprüche zwischen abstrakten Menschenrechten und mangelnder materieller Unterstützung des Gattungswesens Mensch erkennen. Das gute Leben kann eher in einer solidarischen Gemeinwirtschaft realisiert werden. Auf der Basis der Ökonomie des Alltags können sich Menschen individuell und kollektiv entwickeln und befähigen. Eine starke öffentliche Fundamentalökonomie entzieht zudem den Akkumulatoren Möglichkeiten

der weiteren Kapitalisierung und Ausbeutung. Deswegen erscheint es mir sinnvoll, Gesundheit, Bildung sowie alle Bereiche der Daseinsvorsorge der Privatisierung zu entziehen. Wohlstand kommt von unten nicht als Trickle down.

Und nochmal zurück nach Marseille.

Den Konflikten und der Gewaltkriminalität der Stadt wollte mensch auch mit dem Bau von Museen und Plätzen entkommen. Die Kulturhauptstadtphase haben die Damen und Herren der Stadt nicht nur genutzt, die Touristen zu attrahieren, sondern auch den Menschen vor Ort, gemeinsame Orte, soziale Sphären zu gestalten und insbesondere mit Ihnen. Nun sind immer noch nicht alle sozialen Probleme gelöst, aber es gibt Fortschritte. Selbst die Fäkalien und Abwässer werden nicht mehr ungefiltert ins Meer geleitet, von wo aus sie alsbald im anderen Aggregatzustand wieder anlandeten. Das Meer erscheint nun klar und badefertig, auch am langen Strand Plage du Prado und der wunderbaren Badeanstalt Plage des Catalans.

Und es gibt weitere Formen der sozialen Stadtentwicklung. Das L’Après M, eine gekaperte Filiale einer bekannten Hamburgerkette. die von diesem Unternehmen wegen mangelnder Rentabilität in der Pandemie aufgegeben wurde. Vor Jahren bekam Mc Donalds ein Grundstück günstig zugesprochen, zudem Steuererleichterungen und weitere Privilegien Und plötzlich hatte die verbaute, chaotische Vorstadt einen Dorfplatz: notre place du village.

Die Menschen in diesem Viertel haben sich diesen Ort zurückgeholt und zu einem Ort für fast alle (außer der Oberschicht) gestaltet. Vielleicht auch ein Modell, wie wir Menschen uns die Gemeinsamkeit, die sozialen Sphären wieder zueigen machen können. Die Fundamentalökonomie hilft allen. Selbst der Oberschicht. Pas comme les autres, sagen die Franzosen, wenn etwas aus dem Rahmen fällt. In der Pandemie war alles danieder, einer der Mitarbeiter hatte den Schlüssel noch, schloss auf und begann mit der Versorgung des Viertels. Mit kleiner Unterstützung der Stadt, ist es heute im Besitz der ehemaligen Angestellten, die ihre Überschüsse in die Armenhilfe investieren. Ein Dreisterne Koch aus der Innenstadt hat Menüs kreiert. Alle wollen nun diese Soziale Sphäre.

 

Vielleicht wird es ein Vorbild für weiteres. Bitter notwendig, nicht nur hier in den Banlieus von Marseille, wo die Aussichtslosigkeit vorherrscht. Herkunft bestimmt die Zukunft – noch. Demokratischer Sozialismus in Form der sozialen Sphären, der breiten Daseinsvorsorge und sozialen Absicherung würde wirklichen Wohlstand erzeugen. Es betrifft nicht nur die Kanalisation, sondern auch Bereiche der Bildung, der Gesundheitsvorsorge, der zugänglichen Mobilität, der geförderten und damit freien Wissenschaft und Forschung und natürlich den Bereich des Wohnens.

 

Das alles ist eine effektiver Ansatzpunkt für eine gerechte Politik, die letztlich allen dient und erst die gesellschaftliche Teilhabe, die Demokratie befördert und ermöglicht. Dazu braucht der Staat mehr Steuereinnahmen und nicht nur aus der Mitte der Gesellschaft, sondern von den Vermögenden, die sich immer weiter von der Gesellschaft distanzieren, die Vorteile und Privilegien nutzen und wenig zurückgeben.

 

Schlösser, Plätze, Wohnungen und Schulen für alle.

 

 

Weiterlesen: Foundational Economy Collective: Ökonomie des Alltags, Berlin (Suhrkamp) 2019