Wege aus der „Unkultur“ des Kapitalismus

Gustav Bergmann: „Radikale Zuversicht. Möglichkeiten einer Mitweltgesellschaft“, München 2022

Vorbemerkung: Der folgende Text und die Fragen am Ende des Textes sollen im Blog eine Diskussion über das Buch anregen.

Für Gustav Bergmann hat der Kapitalismus als globales Wirtschaftssystem einen Kippunkt erreicht. Der deregulierte Finanzkapitalismus stellt die zivilisatorischen Regeln des Zusammenlebens in Frage: „In der ganzen Welt mehren sich die Anzeichen für eine globale, fundamentale Krise: wir könnten bald Kipppunkte überschreiten und die sozialen Verwerfungen sind eklatant. Wir haben es zudem mit einer ökonomischen Ungleichheit insbesondere an Vermögen zu tun, die die Ausmaße des ancien regime vor der französischen Revolution in einem globalen Maßstab übersteigt. Die dramatischen Ungleichheiten verstärken die ökologischen Probleme et vice versa. Die Ungleichheit und die ökologische Krise führen zu weiteren politischen Krisen, wie Klimakriegen und Tendenzen zu autoritären , gewalttätigen Regimen. Die kapitalistische Unkultur bedroht so die menschliche Zivilisation“ (19).

Der liberale Mythos von Wachstum und Wohlstand für alle verliert an Überzeugungskraft

Denoch tut die  herrschende Lehre der Wachstumsökonomie immer noch so, als sei ökonomisches „Wachstum“ eine unwiderstehliche Naturkraft, die uns nicht ermöglichen würde, demokratisch darüber zu entscheiden, ob und wie die Wirtschaft wachsen soll (ungeachtet der Tatsache, dass die ökonomischen und politischen Eliten genau das tun). Inzwischen wächst die Einsicht, dass dieses kranke und verwilderte funktionalistische Marktsystem vor sich selbst gerettet werden muss.

Die Lösungswege, die Gustav Bergmnann in seinem Buch aufzeigt, zielen vordringlich auf die zentrale ökologische Gerechtigkeitsfrage des Ressourcenverbrauchs. Wie bereits ein Bericht von Oxfam aus dem Jahr 2020 gezeigt hat, ist das reichste zehn Prozent der Welbevölkerung  für über die Hälfte der weltweiten Emissionen verantwortlich. Die ökologische Frage ist auch in anderer Hinsicht eng mit der  sozialen Frage verknüpft: Schaut man sich die langfristige Entwicklung der Vermögensungleichheiten und der Einkommensverteilung an, wird man feststellen, dass die ärmsten 50 Prozent nie etwas besessen haben noch erben werden. Die Vorstellung das Wachstum von selbst Wohlstand und Gerechtigkeit für alle sichert, ist in Bergmanns Augen absurd. Er setzt auf ein anderes Narrarativ: die Mobilisierung der Bevölkerung für Sozialstaat, Steuerprogression und eine Erbschaftsteuer, die vermögen umverteilt. Wenn ein „krisenfeste Grundsicherung für alle Menschen“ finanziert werden soll, erfordert das eine Politik der radikalen Verteilungsgerechtigkeit: eine „aktivierten Erbschafts- und Vermögensteuer sowie der der Besteuerung von Finanztransaktionen“ (376). Eine Grundsicherung ließe sich durch eine Kombination von progressiver Vermögens- und Erbschaftssteuer finanzieren. Der Mindestlohn und eine Beschäftigungsgaranatie wären weitere rechtliche Instrumente, um die Macht- und Verhandlungsposition der abhängig Beschäftigten zu verbessern.

Aber spielt die Politik in Europa nicht längst wieder  „auf Zeit“, wie das Wolfgang Streeck („Gekaufte Zeit“) auf dem Höhepunkt der Banken- und sog. Euro-Krise beschrieben hat? Dominiert nicht unter Macron und Scholz in Europa weiterhin eine Politik der vorsichtigen Korrektur – und Anpassungsmaßnahmen, ohne dass die Wurzel des Übels angepackt wird? Kann das System des Kasino-Kapitalismus nicht munter seinen Spielbetrieb weiterführen?

Licht am Ende des neoliberalen Tunnels

Hier angelangt, schlägt das Buch eine dialektische Volte: Der Neoliberalismus,so die Diagnose,  hat seinen Zenit längst überschritten. Es gibt für den Autor nicht zu übersehende Zeichen, die den Anfang einer neuen Epoche markieren und durch schnelle Veränderungen in einer sozial-ökologische Richtung gekennzeichnet sind. Schon jetzt entwickeln gerechtigkeitstheoretische Ideen in sozialen Bewegungen für Klima- und Naturschutz, für faire Löhne und Menschenrechte ihre materielle Kraft: „Sowohl rechtlich als auch politisch gibt es Anzeichen für einen Wandel und Anlass für radikale Zuversicht. Es wandelt sich Bewusstsein, noch vor wenigen Jahren war die Verleugnung der Erkenntnisse der Wissenschaft noch erheblich mehr verbreitet. In den Medien hielten sich lange Zweifel an der aufkommenden Ungleichheit und der anthropogenen Klimakrise. Dies hat deutlich in Richtung der Anerkennung  der Probleme und Krisen gewandelt.“ (374)

Zuversicht. Rapide Veränderungen in Recht und Politik

Dazu kommen Veränderungen in Gesetzgebung und Recht, die als „Resonanzen“ auf die Umwelt- und sozialen Bewegungen zu erklären sind: „Erste juristische Verfahren laufen, das Recht ist zu einem Treiber der Veränderung geworden, weil eben Abkommen unterzeichnet werden, Gesetze erlassen wurden und damit Mindeststandards gesetzt wurden. Fortschrittlichen Unternehmen orientieren sich um, weil sie die Chancen in einer sich verändernden Welt nutzen wollen. Protestbewegungen bekommen Zulauf. (..) Was aber besonders Anlass zur Zuversicht erzeugt, sind die rapiden Veränderungen und Transformationen, die möglich sind, wenn neu resonante Ereignisse eintreten, das Treibgas FCKW wurde in sehr kurzer Zeit aus dem Verkehr gezogen, (..) sexualisierte Gewalt  ist mit der Me-too-Bewegung in wenigen Jahren deutlich thematisiert und inkriminiert worden.“ (375) . Und nicht zuletzt zeigt  auch der Widerstand gegen Ausbeutung von Mensch und Natur erste Erfolge: „Die Aktivisten im Braunkohlegebiet bei Köln haben eine vorher schier unmöglich Entwicklung erwirkt. Nun wird bald der Ausstieg vollzogen. Mit zunehmenden ökologischen und sozialen Krisen wird es plötzlich zu Veränderungen komnmen. So werden wir uns radikal wandeln, alles hinterfragen und entdecken, dass wahrer Wohlstand jenseits der Kommodifzierung, Effizienz und Konkurrenz entsteht.“ (375) Aber jenseits von Erfolg und Niederlage: (..) plötzliche Einsichten und unser Engagement wirken unabhängig davon , ob alles gelingt.“(375). Ein „Leben, das über uns selbst hinausweist“, ist für den Autor „immer von Sinn durchdrungen. Es ist ein Wirken im Absurden.“(375), Deshalb steht der existenzialistische Held Sisyphos, in der Interpretation von Albert Camus, seinem Herzen am Nächsten.

Kapitalismuskritik, Demokratie und Avantgarde der Muße – Fragen an den Autor:

  1. Wir unterstützen deine Krisenkritik des Kapitalismus, haben aber Schwierigkeiten mit deiner Zeitdiagnose, in der du eine ökokosoziale Reformdynamik in Deutschland ausmachst. Geht es hierzulande wirklich so rapide voran mit der Gesetzgebung für einen ökologischen Umbau der Wirtschaft? Antworten von Gustav Bergmann in kursiv:
    Wir Menschen befinden uns auf einem Planeten gemeinsam, der durch menschliches Verhalten an die Grenzen der Belastung geführt wurde. Das neue Erdzeitalter kann als Kapitalozän bezeichnet werden, weil durch die auf Konkurrenz, Ausbeutung und Steigerung basierende kapitalistische Ökonomie die menschlichen Lebensgrundlagen gefährdet sind. Das Kriterium der Bewohnbarkeitdominiert hinfort alle anderen. Es erscheint mir erforderlich, dass wir ein neues Verständnis unserer Existenz in der Mitwelt entwickeln.
  1. Auch auf längere Sicht gedacht, woher nimmst du den Optimismus, dass Polanys berühmtes Pendel nicht in eine reaktionäre Richtung schwingt, hin zu autoritären Lösungen der Kapitalismuskrise? Ist die aktuelle normative Richtung  der Politik wirklich so, dass die  Ideen einer Postwachstumsgesellschaft wirklich auf dem Vormarsch sind?
    Antwort: Auch in positiver Hinsicht gibt es Kipppunkte, die durch unabwendbare Ereignisse schlicht notwendig werden oder aber durch neue Regeln und Vorschriften, die Vorteilhaftigkeit bestimmter Handlungsweisen verändern. Landwirtschaft muss in Dürregebieten vollständig umgestellt werden, egal welche politische Einstellung die Bauern dort haben. Städte müssen zwingend autofrei werden, weil sich die Luftqualität bedrohlich verschlechtert und die Mobilität nur durch weniger Verkehr zu organisieren ist. Wenn sich die Preise für fossile Energien erhöhen, disponieren die ökonomischen Akteure um. In der Wirtschaft funktioniert ja nur der Preis, der aber eben auch durch Regeln, Verbote und Auflagen bestimmt wird. Fast erscheint es egal, welcher politischen Couleur die Regierung ist, sie muss in allen Fällen Veränderungen einleiten. Nur wer sich mit einer möglichen Zukunft, dem Lebensbejahenden verknüpft, wird auch ökonomisch überleben.
  1.  Wenn wir dich richtig verstanden haben, argumentierst du für die motivierende moralische Kraft eines Gefühls der „Zuversicht“. Stellen moralischen Gefühle generell (ob Hoffnung, Zuversicht oder auch Pessimismus) nicht eine höchst unsichere Motivation für moralisches Handeln dar? Sollten wir uns im  Kampf um die „kulturelle Hegemonie“ (Antonio Gramsci) nicht stärker an der kognitiven Überzeugungskraft von  Ideen und Argumenten statt an optimistischen oder pessimistischen Gefühlen orientieren?
    Antwort: Wie sich schon zu Zeiten Karl Polanyis in den USA gezeigt hat, hat der investierende Staat (New Deal) eine deutliche Abkehr von faschistischen und reaktionären Politiken bewirken können. Eine konsequente Gleichheits- und Gerechtigkeitspolitik (Besteuerung von Vermögen, Fundamentalökonmie) mit dem unternehmerischen und innovativen Staat (Marianna Mazzucato) entzieht den Reaktionären den Boden. Grundsätzlich verdirbt die Konzentration auf Konkurrenz, sog. Leistungsdenken, Begehren, Gier und Steigerung jeden Charakter. Das kapitalistische Denken dringt in unsere Seelen und bringt so die schlimmstenSeiten des Menschen hervor. Gepaart mit einem übertriebenen Individualismus, der weltfremd davon absieht, dass wir das Wenigste allein und selbst erschaffen können, lässt er kooperatives und emphatisches Verhalten verkümmern. Die Zuversicht verstehe ich nicht als Gefühl, sondern als grundsätzliche aktive Haltung, die sich auch aus der Tatsache begründet, dass wir an Ausbeutungsgrenzen angekommen sind und zwar sozial und ökologisch. Zuversicht ist auch nicht daran geknüpft, ob es letztlich zu einer Lösung und Krisenbewältigung kommt. Sondern es ist eine Haltung des Dennoch, die unabhängig vom Gelingen immer wieder praktiziert wird. Wir brauchen die Energie der Zuversicht, um die Kraft zu haben, die Konflikte zu bestehen und die Rückschläge zu verkraften.
  1. Wenn man schon für eine emotive Moralbegründungen optiert, warum sollte man dann nicht  dem Gefühl des „Pessimismus“ oder der „Skepsis“ den Vorzug vor dem Gefühl der „radikalen Zuversicht“ geben?
    Antwort: In meinem Buch unterscheide ich grundsätzlich zwischen Moral und Ethik, gründe meine ethischen Auffassungen auf diskursive Vernunft. Dabei wird es durchaus kompliziert, da ich Gefühle neben Verstand für gleichwertige Grundlagen der Vernunft ansehe. Gute Entscheidungen brauchen beides. Unter Moral werden aus Sitte, Gebrauch, Gewohnheit, Religion, Ideologie und Empfinden resultierende, wertende Auffassungen verstanden, die insbesondere einflussreiche Akteure anderen Menschen auferlegen: die sogenannte gesellschaftliche Moral. Diese vorherrschende Moral wird meistens von den einflussreichen Machtgruppen bestimmt. Demhingegen stellt die (kommunikative) Ethik als Teilgebiet der Philosophie eine Form der normativen Entwicklung darstellt, die mit Albers und Habermas diskursive Versuche unternimmt, Gerechtigkeit zu schaffen und die herrschende Moral dabei kritisch untersucht. Ethik dient der Normenentwicklung als Vorstufe der Gesetzgebung, die wiederum demokratisch- diskursiv Legitimität erfährt. Für mich ist Pessimismus eine nihilistische Haltung, die aufgibt, bevor alles versucht wurde. Optimismus hingegen halte ich für naiv. Die Skepsis teile ich allerdings, nur mache ich weiter mit dem Apfelbäume pflanzen, auch wenn die Aussichten sehr schlecht stehen.
  1. Deine Kapitalismuskritk lässt in den ökonomischen Passagen deines Buchs an Schärfe nichtszu wünschen übrig. In ihrem Grundtenor erinnert deine Kapitalismuskritik an Upton Sinclairs „Der Dschungel“. Der Kapitalismus frisst dort seine eigenen Voraussetzungen auf und macht am Ende die soziale Reproduktion der Gesellschaft unmöglich. Dann aber scheint es im zweiten Teil deines Buches so, als ob der Kapitalismus in deinen Augen doch noch „schlau“ genug sei, neue Formen der netzwerkartigen Kooperation und Solidarität zu adaptieren. Täuscht uns dieser Eindruck, dass es bei dir doch noch so etwas wie ein „Restvertrauen“ in die Lernfähigkeit des Systems gibt, das am Rand des Abgrunds dann doch selbstkorrigierende Kräfte entfaltet?
    Antwort: Ja, da ist Vorsicht geboten. Der Kapitalismus absorbiert alle neuen Entwicklungen und dreht sie häufig in ihr Gegenteil. So die Sharing Economy, die nach der kapitalistischen Vereinnahmung nichts mehr vom fairen Tauschen und Teilen übrig lässt. Der starke, demokratische Staat kann strenge und klare Regeln setzen, die die positiven Marktkräfte effektive einsetzen lässt. Eine eingehegte, regelbasierte Marktwirtschaft halte ich durchaus für ein sinnvolles Selbstorganisationsmodell. Doch wir haben in den meisten Fällen keine solchen polypolitischen und geregelten Märkte mehr, sondern Plattformkapitalismus mit sich gegenseitig bekämpfenden Kleinunternehmer:innen, Machtwirtschaft, Machtballungen oder regellose Anomie. Die Ungleichheit weltweit und in den einzelnen Ländern hat eklatante Ausmaße angenommen. Schon spalten sich hyperreiche ganz aus der Gesellschaft aus und versuchen sich der Gesellschaft der anderen vollständig zu entziehen. Privilegien des Kapitals unbedingt begrenzen und Kapitalgesellschaften brauchen den Staat, auch Tech- Konzerne brauchen Kunden und Märkte.…. Hier können Staaten oder auch Staatengemeinschaften (EU) wirksam werden, um die Besteuerung (Beseitigung von Steuer“paradiesen“, Vermögensbesteuerung).
  1. Findest du die radikaldemokratische Position deines Buchs korrekt beschrieben, wenn man deinen wirtschaftspolitischer Ansatz als Plädoyer für einen „New Green Deal“  und eine „Postwachstumsökonomie“ bezeichnet, der als Bündnis von „fortschrittlichen Unternehmen“ über ein grünliberales Bürgertum bis hin zu den prekären Schichten und den sozialen Bewegungen reichen sollte?
    Antwort: Ja, das ist (siehe oben) ein wirkungsvoller Ansatz. Nur muss sich der demokratische Staat auch durchsetzen können. Zu denken ist hier an ein Bündnis der revoltierenden Gruppierungen. Der New Deal hat lediglich das Pendel in Richtung Demokratie wandern lassen. Weil aber die grundsätzliche Ausbeutungsökonomie und der Individualismus weiter betont wurde, ist das Pendel danach zurückgeschlagen.
  1. Du sprichst an einer Stelle deines Buchs davon, dass eine „praktische  Transformation“  durch eine „gewinnende und verbindende Art und Weise“  (323) braucht. Ist das nicht etwas zu einfach gesagt, wo doch die historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung, des Kampfs um Frauen- und Bürgerrechte zeigen , dass soziale Kämpfe nicht nur ein freundliches Gesicht zeigen können, zumal wenn es um den Kampf gegen Machtprivilegien geht?
    Antwort: Hass und Gewalt führen meistens zu sehr unkontrollierbaren Folgen und spiegeln das Verhalten, das man bekämpft. Die Revolution frisst ihre Kinder. Votiere für die Revolte, eine erfinderische Form der Verweigerung, der Ausnutzung von Gelegenheiten, aber auch der Ausschöpfung aller friedlichen Mittel, um verbessernde Veränderungen zu erzielen. Die Konflikte bestehen weiter, wie die Widersprüche des Kapitalismus. Die Gewalt entwickelt sich, wenn die Konflikte und Widersprüche negiert werden. Es braucht eine ehrliche Erinnerung, eine Eingeständnis von Konflikten und Ungerechtigkeiten. Nur dann können diese in Diskursen (auch sozialkritisch) behandelt werden. Wir können m.E. aber nur das „Schiff“ umbauen, auf dem wir auf hoher See unterwegs sind. Dieses Schiff müsste eigentlich im Hafen vollständig umgebaut werden, nur ist das nicht möglich. Ein Beispiel. Schon diesen Sommer wird der „Garten“ Italiens zu wenig Wasser haben. Es bedarf einer schnellen, radikalen Umstellung auf Permakultur, nachhaltige Wasserwirtschaft und einiges mehr. Dies ist keine Frage der politischen Einstellung. Sehe deshalb Chancen darin, alle Kräfte zu bündeln und sich für folgende Bereiche einzusetzen: Jeder Mensch kann und muss nach seinen Möglichkeiten bei sich selbst beginnen, die Welt zu verändern. Jede Stimme zählt, aber auch jede Initiative, jede Einsparung. Es kommt auf alle an. Neben der persönlichen Veränderung, ist politisches Engagement notwendig, die strukturellen Veränderungen einzufordern. In allen Bereichen der Gesellschaft sind erweiterte Formen der Demokratie zu etablieren. Alle Möglichkeiten, die es schon gibt, sind noch aktiver auszuschöpfen. Bürger:innenbeteiligung, Klage und Einspruchsrechte sind zu nutzen, mehr Mitwirkung und Engagement auch in Regionen und Unternehmen sind einzufordern. Es sind politisch alle Anstrengungen zu unternehmen, die Privatisierung und Finanzialisierung zurückzudrängen und die Fundamentalökonomie zu fördern. In jeder Gemeinde, in jeder Region sollten sich alle gutmeinenden Akteure für freien Zugang zur Bildung, zum Gesundheitswesen, zur autolosen Mobilität, zu öffentlichem Wohnungsbau usw. einsetzen. Die Privilegien des Kapitals sind deutlich zu reduzieren. Wir brauchen stattdessen eine größere Wertschätzung menschlicher Arbeit und den konsequenten Schutz der Ökosphäre mitsamt einem Naturvertrag. Die Technologie kann allein keine Lösung sein. Technologie verstärkt das, was ist. Sie wirkt sich nur bei einer sozialen, ethischen Rahmung positiv aus. Ansonsten drohen überall Rebound- Effekte: Die Vorteile des Technologieeinsatzes werden durch vermehrten Gebrauch und Energieeinsatz überkompensiert. Die Lasten müssen gerecht verteilt werden. Wir brauchen eine krisenfeste Grundsicherung für alle Menschen, die aus einer aktivierten Erbschafts- und Vermögenssteuer sowie der Besteuerung von Finanztransaktionen finanziert wird.Wir brauchen wirksame Verbote und strenge Auflagen für mitweltschädliche Aktivitäten, alle Kosten und Schäden sind zu internalisieren. Die Freiheits- und Zukunftsberaubungen der Einen durch die imperialen Lebensstile der Anderen sind zu inkriminieren. So müssen die Armut und der Hunger endlich beendet werden. Ein wichtiges Mittel auch dazu ist die Ermächtigung der Frauen und die Anerkennung und der Respekt von allen Lebensformen, der Aufbau einer für Menschen und Ökosysteme verträglichen Landwirtschaft, sowie regenerative Energie und ein verkehrsarmes Mobilitätssystem. Der Wildnis sind weite Gebiete auf dem Land und in den Meeren zurückzugeben (30-50 %). Naturschutzgebiete müssen der ökonomischen Nutzung entzogen werden, wobei die Schutzgebiete durchaus und erst recht von Indigenen durch ihre nachhaltige Lebensweise geschützt werden sollten. Wir brauchen vielfältige Mußebereiche für Bildung und Entwicklung und die bedingungslose Förderung der Kunst und Kultur. Dazu gehört auch die Förderung von Vielfalt und Toleranz in einer Gesellschaften der sozialen Freiheit. Wir müssen jetzt alle, in dem Ausmaß, wie es uns möglich ist, die Transformation bewirken, uns selbst hinterfragen, welche Gewohnheiten abzulegen sind, was das wirklich Wichtige und Bedeutsame im Leben ist. Daraus entwickelt sich dann radikale, also bedingungslose Zuversicht.
  1. Wie auch immer, sozialen Konflikte  müssen auf demokratischem Weg ausgetragen werden. Nun machst du dazu in deinem Buch eine Menge konkreter Vorschläge zur Ausweitung der direkten Demokratie (Anleihen bei der Schweizer Konkordanzdemolratie, erweiterten Formen der direkten Demokratie, einen Rat der Bürger:innen etc.), die wir hier nicht en detail diskutieren können. Unsere Frage lautet: muss man sich gegenwärtig nicht eher Sorgen machen, wie durch eine egalitäre Finanzierung von Wahlkämpfen, Parteien , Medien verhindert werden kann, dass demokratische Wahlen und die Institutionen der repräsentative Demokratie insgesamt von den Wohlhabendsten „gekapert“ bzw. vereinnahmt werden? Und sind Elemente der direkten Demokratie wirklich der „Königsweg“ diese Einflussnahme zu verhindern?
  1. Würdest du in diesem Zusammenhang mit der Weiterentwicklung einer dezentralisierten  Fundamentalökonomie  stärker auf  die demokratische Steuerungsinstrumente  der Europäischen Union setzen, auch wenn deren demokratische Institutionen gegenwärtig ja  nicht gerade den Eindruck von Kraft und Selbstvertrauen vermitteln?
    Antwort: Die parlamentarischen Demokratien verlieren den Zuspruch durch die Subalternen. Die Teilhabe an demokratischen Prozessen erscheint vielen nicht möglich, weil sie schon zusehe mit Daseinsvorsorge beschäftigt sind oder ihnen die Bildung und Teilhabefähigkeit fehlt. Die Ausweitung der Demokratie, mehr Rechte für regionale Parlamente könnte mehr Interesse für die politische Mitwirkung erzeugen (es gibt schlicht mehr zu entscheiden), die Politik wird konkreter und kann sich besser an den Bedürfnissen ausrichten. Zudem wirkt sich eine bessere Grundsicherung und die Stärkung der Fundamentalökonomie auf die Mitwirkungsmöglichkeiten aus. Zudem spielt die Demokratisierung der Wirtschaft eine große Rolle. Ein wesentlicher Bereich der Gesellschaft erscheint demokratiefern. Das hat zwei sehr problematische Folgen. Am Werkstor werden die Bürgerrechte arg eingeschränkt. Elizabeth Anderson spricht von Diktatur inmitten der Demokratie. Zudem dürfen die Mitarbeitenden Menschen nicht über die Erzeugnisse mitbestimmen, die gemeinsam erzeugt werden und erhalten nur einen Bruchteil ihres Beitrages zur Wertschöpfung. Auch wird – insbesondere bei hoher Konzentration des Kapitals, über wesentliche Ausrichtungen der Produktion und die Produktionsweise nach Maßgabe von Kapitalinteressen von nur wenigen Personen entschieden. Angesichts der knappen Ressourcen sowie der ökologischen und soziale Ausbeutung erscheint das nicht mehr legitim. Im Kapitalismus werden Produkte und Dienste ja nur angeboten, um damit Gewinne zu erwirtschaften. In Zeiten der fundamentalen Krise wird sich eine solche Ausrichtung nicht mehr rechtfertigen lassen. Wir müssen gemeinsam, auch im globalen Maßstab, die Ökonomie in eine dienende Funktion zurechtstutzen und die Ökonomie auf das Ziel der Aufrechterhaltung der Bewohnbarkeit der Erde ausrichten. Die ist ein inhärenter Zwang, der aus den Grenzen der Ausbeutung resultiert.
  1. Zu den „Flaneuren, Introvertierten, Künstlerinnen als Avantgarde der Muße“ (309 ff.). Darin schwingt die Vorstellung des junge Marx von der Mußegesellschaft mit, die es jedem erlauben soll, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, mittags Viehzucht zu betreiben  und nach dem Essen zu kritisieren.“ Nur, was hat das mit der Realität der Arbeit von freien Künstler:innen auf dem Kunstmarkt zu tun, sofern sie nicht zur Schicht der „Bobos“ (Boheme-Bourgeoisie) gehören?
    Antwort: Kunst entsteht eher abseits des Marktes, zielt nicht auf Zustimmung und Vermarktbarkeit. Sie erwächst aus einem inneren Antrieb. Die Kunst kann am besten gefördert werden, wenn es für Kunstschaffende eine sichere Grundförderung gibt. Das ist im Forschungsbereich im übrigen ähnlich. Ein Beispiel ist die Literatur- und Musikförderung im Skandinavien. Kunst erblüht, wenn sich die Künstler:innen frei entfalten können, ihre eigenen Projekte beginnen können, gerade weil sie auf Basis der Grundsicherung mehr Wagnisse eingehen können. Es erscheint mir notwendig, alle progressiven Kräfte, die sich der Menschlichkeit, dem Leben, der Erfindung, der Vielfalt, gemeinsamen Freiheit, Gleichheit, desMaßes und gleichberechtigten Zugangs zu Ressourcen verpflichtet sehen. Die die Kultivierung, die menschliche Zivilisierung vorantreiben wollen zu bündeln. Die retropolitischen reaktionären Akteure kämpfen gegen alleFormen des zivilisatorischen Fortschritts. Es wird notwendig sein, eine „ökologische“ Klasse (Bruno Latour) zu bilden, die sich gegen alle Formen der Ausbeutung und Diskriminierung und für einen „wahren Wohlstand für alle“ einsetzt.

Pit Flick, Februar 2023 / Antworten von Gustav Bergmann, Februar 2023